Dr. Erasmus Schöfer
Beobachtungen an W.A. Heckmanns Arbeiten


W.A. Heckmann, Galerie Toni Brechbühl -Ausstellungskatalog 1964
 

Die Kriterien der Phantasie sind bildlich, und das bedeutet: anschaubar, doch unverständlich. Erscheint sie plastisch, ist sie den Händen allenfalls begreifbar, doch nicht den Worten. Wo das Auge Richter ist, übernimmt die Sprache die Dienste des Pedells. Phantasie an sich ist so ufer wie kriterienlos. Sie definiert sich aus der Unendlichkeit der Möglichkeiten, das heißt, überhaupt nicht. Aber sie wirft sich hinein in diese Unendlichkeit und bringt darin etwas zum Stehen. Solche Feststellungen phantastischer Allfältigkeit sind die Plastiken, die sich hier zeigen.

Derartige Qualität offenbart bei näherem Zusehen ein inneres Paradox: Die Konkretion des Phantastischen hat seine Formalisierung zur Folge, Maße schießen ins Maßlose, die Lebendig¬keit absoluter Willkür ist gebannt, der Mensch wird eines Gegenstandes habhaft. Ist das zu ver¬stehen? So wenig wie Schöpfung überhaupt, dieser Übergang von reiner Potenz in Aktualität. Übergang ist das Wesen der Gebilde Walter Heckmanns, wobei das Wort «Wesen» bewusst gehalten sein will in seinem statischen und dynamischen Gehalt: Dasein und Da werden in Einem. Die Sprache gerät in Not, wenn sie sich um Paradoxa bewegt. Noch ein Zugriffsversuch des Bild¬losen auf das Bildliche: Diese Plastiken haben eine zukünftige Qualität, obwohl sie wirklich, also gegenwärtig dastehen. Sie sind dazwischen, übergänglich. Daher rührt ihr erregender sinnlicher Reiz. Man kann sich an ihnen nicht beruhigen.

Konkretion des Phantastischen, sagten wir, hat eine Formalisierung zur Folge, und wollen das festhalten: Plastiken haben es an sich, in Dimensionen zu sein, sich in Abmessungen zu entfalten - wenn auch nicht, sich darin zu erschöpfen. In dieser banal erscheinenden Eigenschaft liegt die Möglichkeit zur Kunst, zur Kunst überhaupt und zur bildenden im Besonderen. Reine Bizarrerie hat zwar in dem besagten Sinn etwas Schöpferisches, aber schwerlich ästhetischen Belang. Proportionen, Korrespondenzen, wenn auch intimer, gleichsam hinterhältiger Art, stützen die Plastiken Heckmanns. Es sind Gewichte in ihnen verteilt. Der wortwaltende Verstand tappt zwar im Unkenntlichen, aber das besser bemessene Auge versteht und bringt die formalen Eigen¬tümlichkeiten der ästhetischen Empfindung nahe. Suchen wir noch etwas einzugrenzen, was uns hier kunstvoll anmutet, so stoßen wir auf die früheren Arbeiten Heckmanns: Das klassische Sujet der bildenden Kunst, das Maß aller Dinge, der Mensch und menschliche Körper war dort zentral. Gegenständlich, in der gängigen Terminologie, erschienen jene Plastiken, und abstrakt sind sie noch heute nicht. Verfremdungen der gewohnten Maße damals, jetzt aber nicht mehr rückwärtsgewandt, sich abstoßend am Bewährten wie Zweifelhaften, sondern ausgreifend nach vorn von dem gesicherten Grund der dem bildnerischen Bewusstsein einwohnenden, erworbenen Formen und Gestalten aus. Sagen wir: Ein Prozess des Eroberns aus der Erinnerung. Das charakterisiert die heutigen Arbeiten Heckmanns. Wo er gelegentlich diesen Grund verließ, den Rückhalt aufgab und das Material absolut, losgelöst, wenn man will «abstrakt» formte, verloren die Ergebnisse an Überzeugungskraft, blieben unverbindliche Kuriosa, sofern sie sich nicht von vornherein nur ornamental verstanden.

Phantasie, sagten wir eingangs, sei unverständlich. Inzwischen haben wir geklärt, dass sie, wenn sie im Bereich der Kunst sich materialisiert, nicht formlos sein darf. Bedarf es noch eines an¬schaulichen Beweises hierfür, so liefern den die Bilder Heckmanns. Ihre Verwandtschaft mit den Plastiken ist evident. Doch stellen sie nicht thematische Variationen dar, dies gerade nicht, sondern sind einkreisende Annäherungen an jenen Ort im Ortlosen, den eine Plastik einnehmen, den sie einbilden soll. Wenn ein etwas pittoreskes und milieufernes Bild erlaubt ist: die Vorbe¬reitungen zur Jagd, die Pirsch und das Warten. Wie der Schuss, plötzlich, unheimlich in ihrer raschen, zugreifenden Konsequenz ist dann die Arbeit Heckmanns im plastischen Material.

Übrigens ist das Material kein Gegner mehr. Nicht zufällig ist auch terminologisch aus dem Bild¬hauer der Plastiker geworden. Man könnte vermuten, dass hier das anbrechende Zeitalter der Plaste, die Stein-, Bronze- und Eisenzeit ablösend, eine Modernität des künstlerischen Werk¬stoffes herausgefordert hat, oder, noch mehr im Vordergrund, dass der Künstler in dieser sich immer mehr beeilenden, zeitraffenden Welt die Geduld zum langsam sich steigernden Kampf mit den klassischen, widerstandsreichen Werkstoffen verloren hat. Dieser Argwohn ist unbe¬gründet- das zeigt schon die erwähnte Weise der einkreisenden Vorbereitung einer plastischen Schöpfung Heckmanns. Einen Bezug zur Zeit hat dieses Material jedoch gewiss. Wie sehr neben den stoffimmanenten Gegebenheiten der Konsistenz, Steife und vielfachen Formbarkeit des Primärmaterials auch die Oberflächen- und Körperbeschaffenheit des fertig gegossenen Werkes in direkter Korrespondenz zum Geist der Zeit steht, ist dem Hersteller wie dem Betrachter wohl eher hintergründig als ausdrücklich berußt und lädt sich auch kaum definieren.
Wichtiger erscheint etwas anderes. Früher hatte Heckmann den gipsähnlichen, also fast völlig amorphen Eisenzement um Drahtgerüste gebaut. Schon da das Suchen nach einem nachgie¬bigen und doch statischen Material. Aber erst im Styropor hat er offenbar den ihm entsprechen¬den Werkstoff gefunden. Entsprechend nämlich seiner latenten Intention des erinnernden Ausgreifens, des formal gehaltenen Einbruchs in das Phantastische. Dieser Werkstoff verbindet auf höchst erstaunliche Weise die gleichen paradoxen Eigenschaften, wie sie in den als fertige Gebilde betrachteten Plastiken zum Stehen gekommen sind: Absolute formale Neutralität (das Kennzeichen des Phantastischen) und ein unbegrenztes Angebot konsolidierbarer Formen (wie sie die Erinnerung bietet). Styropor ist schneidbar und warmverformbar, lässt sich biegen und kleben, drücken, brechen und brennen und behält dennoch seine räumliche Steifheit. Man möchte sagen: ein hingebungsvolles und zugleich folgsames Material, plastische Luft.

So ergänzen und reflektieren sich hier ein eben erfundenes artifizielles Medium und ein beson¬derer Gestaltungswille in einmaliger Weise zur Originalität. Wie originell, wie frei in einem abso¬luten Zwischenraum stehend Heckmanns Bildwerke sind, zeigt mehr noch als solche Überlegun¬gen und mögliche formalästhetische Vergleiche eine ganz simple Erfahrung; es ist ohne Belang, wo diese Plastiken sich aufhalten, in der Unordnung des Ateliers, auf den Podesten der Galerie, in den alltäglichen Bezügen des Wohnzimmers oder den gewachsenen Verhältnissen einer Landschaft: sie haben eine Raum um sich, ohne ihre Umgebung zu zerreißen; indem sie sich abheben, fügen sie sich ein. Sinnvoll auch, dass zu ihrer wesentlichen Einmaligkeit an dem jewei¬ligen Schnittpunkt von Phantastischem und Erinnertem die tatsächliche, durch die Gußtechnik bedingte Einmaligkeit jeder Arbeit kommt. Eine Reproduktion aus was immer für Gründen wäre Verstoß gegen das eigene Gestaltungsgesetz, mehr: dessen Aufhebung.

Wenn nun noch einige Worte andeutend zum Inhaltlichen der Figuren gesagt sein sollen, so ist dies keine Negation der eingangs gemachten Feststellung von der wörtlichen Unsagbarkeit des Phantastischen. Was sich ansprechen lässt, ist die Herkunft, nicht die Zukunft, das Erinnerte, nicht das Erfundene. Da zeigen sich - dies ist nur ein besonders auffälliger Aspekt - Figuren auf der Grenze zwischen Mensch, Maschine und Material, keine Roboter in technischer Präzi-sion, eher Gebilde aus den fluktuierenden Zonen, wo die Aggregate zu spuken beginnen, wo der installierte Geist sich misstrauisch und maliziös selbständig macht, Maschinengeister, Homun¬culi, doch aus den Baukästen statt der Retorte geboren. Oder will man’s von der Seite des Menschen sehen, wo das ja herkommt, so zeigen sich Lebewesen, besser: Stehwesen, deren Phantasie sich nach außen gekehrt hat, deren körperliche Lebendigkeit, Übergänglichkeit so groß ist, dass sie die Form ihrer eigenen Vorstellungen annehmen. Überall sind Öffnungen zu finden: Indizien der fortdauernden Ausflüsse und Einflüsse. Wem es liegt, der kann hier Symbole entdecken. Aber es genügt schon, wenn man die Entsprechungen feststellt, da diese Plastiken, wir sagten es, unabhängig sind, der Bezüglichkeit kaum bedürftig.

Es gibt eine Kunst, die das Perenniereride anstrebt, die sich allgemeinen menschlich-ästhetischen Gesetzen verpflichtet weiß. Ihr gegenüber, sie ergänzend und berichtigend, liegt jene, ebenso tief menschlich begründete Kunsttätigkeit, die im Ausgreifen und Einholen, im Aufschließen zukünftiger Welten ihren Sinn sieht. Ihr ist Walter Heckmann verbunden. Aber seine Schöpfun¬gen sind nicht utopisch. Sie liegen dort, wo die Verbindung zum Vergangenen andauert und der Einfluss des Zukommenden unausweichlich ist.